Von Pull-Effekten und falschen Signalen

Veröffentlicht am 19.10.2022 in Ortsverein

Ende September haben sich der Landrat des Landkreises Rastatt, der Oberbürgermeister von Rastatt sowie 20 Bürgermeister und 2 Bürgermeisterinnen aus den umliegenden Städten und Gemeinden in einem offenen Brief, der auch hier im Gemeindeanzeiger abgedruckt war, an die politisch Verantwortlichen aus Bund und Land gewandt. Allein an der Tatsache, dass die Unterschriftenliste ganze vier Seiten des Gemeindeblatts einnahm, konnte man ermessen, dass hier etwas Außergewöhnliches auf den Weg gebracht worden war. Auch unser Bürgermeister Constantin Braun hatte sich in die Liste der Unterzeichner eingereiht.   


Gegenstand des "Gemeinsamen Schreibens", das als eine Mischung aus Hilferuf und flammendem Appell gelesen werden kann, war die als äußerst prekär bezeichnete Unterbringungssituation von Geflüchteten auf Kreis- und Gemeindeebene.


Wir als SPD-Ortsverein Bietigheim können Intention und Zielrichtung des Schreibens sehr gut nachvollziehen und die Forderungen der kommunalen Amtsträger größtenteils unterschreiben. Auch bei uns in Bietigheim ist die Unterbringung von Geflüchteten sehr schwierig, der Druck gerade auf die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer enorm, und die Wohnraumsituation für diejenigen, die vor Krieg, Zerstörung und Verfolgung hierher geflüchtet sind, oftmals schwierig. Zurecht fühlen sich alle Beteiligten auf kommunaler Ebene von Bund und Land im Stich gelassen.

 

Ein Satz des Schreibens hat jedoch bei uns für viel Diskussionsstoff gesorgt. Dort heißt es: "Auf Bundesebene müssen die Pull-Effekte abgestellt und insbesondere der Rechtskreiswechsel für die ukrainischen Flüchtlinge vom Asylbewerberleistungsgesetz zu Hartz IV (und künftig dem Bürgergeld) zurückgenommen werden, weil dadurch falsche Signale ausgesendet werden." 


Wir sind mehrheitlich der Auffassung, dass dieser Satz selbst "falsche Signale" aussendet. Denn auch ohne den Begriff vom "Sozialtourismus" zu verwenden (Grüße gehen raus an Friedrich Merz, der hier das Copyright hat) wird dadurch recht sorglos und ohne große Not die rechtspopulistische Erzählung übernommen, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Höhe der Sozialleistungen und der Zahl der ukrainischen Geflüchteten gäbe. Oder, umgekehrt ausgedrückt, dass eine beträchtliche Anzahl an Menschen nur deshalb hierher flieht, weil in Deutschland
angeblich das "große Geld" winkt (nur zur Einordnung: der Hartz IV Satz liegt aktuell bei 449 € monatlich). 


Diese Erzählung ist nicht nur menschenverachtend, sie ist auch inhaltlich falsch. Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung ("Hat Friedrich Merz recht?" von Nina von Hardenberg, 10.10.2022) ist sich darüber inzwischen nicht nur die Fluchtforschung einig, auch eine aktuelle Analyse des Bundesinnenministeriums kommt zum selben Schluss. Im Ministerium wurde die Zahl der Menschen untersucht, die per Bahn oder in gesondert eingesetzten Bussen aus der Ukraine
nach Deutschland kamen. Diese Zahl ist, verglichen mit den ersten Monaten des Krieges, deutlich rückläufig. Und daran hat weder die Bekanntgabe der höheren Sätze im April, noch der Stichtag ihrer Einführung im Juni etwas geändert. Auch nach Ansicht des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung sind die "Sozialgesetze [...] für Migrationsbewegungen irrelevant". Stattdessen versuchen Menschen, die vor Waffengewalt fliehen, möglichst nah an ihrem ursprünglichen Wohnort zu bleiben. Aus diesem Grund verbleiben (über alle Konflikte hinweg) zwei Drittel aller Vertriebenen im eigenen Land. Und ein Großteil derjenigen, die ihr Land
verlassen, suchen Schutz im Nachbarland. Diejenigen, die es weiter weg zieht, haben meist Freunde oder Familie im Land der Zuflucht. Aus diesen Gründen ist die Schlussfolgerung von Nina von Hardenberg unserer Meinung nach zutreffend, nach der "ein komplexes Zusammenspiel individueller Motive" darüber entscheidet, wohin sich Menschen auf der Flucht wenden. Die ökonomische Situation im Zufluchtsland ist somit höchstens einer unter vielen Faktoren. 


Bei aller Sympathie für das Anliegen der Verfasser des Offenen Briefes hätten wir uns in diesem Punkt von Landrat und Bürgermeistern mehr Empathie für die Flüchtenden und eine größere Differenzierung in der Analyse gewünscht.   


Möchten Sie mit uns über dieses oder andere Themen diskutieren? Dann kommen Sie zu unserem Mittwochstreff. Den nächsten gibt es am 7.12.22, wie immer im Haus Edelberg. Wir freuen uns auf Sie.   


Ihr SPD-Ortsverein Bietigheim

 
 

Landtag

Jonas Nicolas Weber
Jonas Nicolas Weber

 

 

 

Bundestag

Gabriele Katzmarek

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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